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Titel
Kulturübersetzung als interaktive Praxis. Die frühe deutsche Ethnologie im Amazonasgebiet (1884–1914)


Autor(en)
Fernandez Castro, Johanna
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Hoth de Olano, Professur für Geschichte Lateinamerikas, KU Eichstätt-Ingolstadt

Johanna Fernández Castro untersucht in ihrer an der Justus-Liebig-Universität Gießen entstandenen Dissertationsschrift Formen der Kulturübersetzung als interaktive Praxis am Beispiel der frühen deutschen Ethnologie im Amazonasgebiet (1884–1914). In Anlehnung an Doris Bachmann-Medick versteht sie aus einer kulturanthropologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive eine Übersetzung nicht nur als konstitutives Element einer Sprachvermittlung und als einen Prozess, der einen kulturellen Kontext übersetzt, sondern ebenso als eine epistemologisch und diskursiv verankerte Praxis (S. 12f.).1 Sie fasst Kulturübersetzung als „eine Art Metapraxis“ (S. 15), die aus mehreren Praktiken besteht. Wie solche interaktive Praktiken aussahen, untersucht die Studie am Beispiel der frühen deutschen ethnologischen Forschung im Amazonasgebiet und fragt danach, unter welchen Bedingungen diese Übersetzung geschah und welche Akteure daran beteiligt waren. Die Nachlässe und Publikationen von Karl von den Steinen (1855–1929), Max Schmidt (1874–1940), Theodor Koch-Grünberg (1872–1924), Fritz Krause (1881–1963), Konrad Theodor Preuss (1869–1938) und Wilhelm Kissenberth (1878–1944) bilden die Quellengrundlage. Der in der Ethnologischen Sammlung der Philipps-Universität Marburg archivierte Nachlass Theodor Koch-Grünbergs mit unveröffentlichten Texten, Fotografien, Skizzen und Karten, ist das umfangreichste Quellenkorpus, und steht im Zentrum der Analyse.

Der umfangreichen Einleitung von knapp 50 Seiten, in der sehr tiefgründig konzeptuelle Überlegungen zu „Kontaktzone“ und „Kolonialität“ dargelegt werden, folgen drei Kapitel, die auf empirische Weise verschiedene Dimensionen von Kulturübersetzung – Repräsentationen, Sprachvermittlung und materiellen Austausch – in den Blick nehmen.

Im ersten Kapitel werden zunächst ethnografische Repräsentationen von Indigenen beleuchtet, die sich durch eine „Kolonialität des Wissens“ (S. 62ff.) als Fundament der Ethnologie auszeichneten. Reiseberichte versteht Fernández Castro als Palimpseste, also Texte, in denen Spuren anderer Texte zu finden sind. Die Ethnologen versuchten, die für sie fremden Kulturen möglichst so zu präsentieren, dass Unbekanntes in Bekanntes verwandelt wurde. Dabei schreckten sie nicht vor Verfremdungen zurück. Beispielsweise wurden indigene Heilmethoden als „Zauberei“ oder „Hexerei“ repräsentiert und damit abgewertet (S. 88).

Im Anschluss werden lokale Bedingungen und Akteure der ethnografischen Praxis in den Fokus gerückt. In der Kontaktzone wurde der Ethnologe zum Mitwissenden und zum Zeugen von Gewalt, Schuldknechtschaft und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung. Wie das Beispiel Albert Fričs‘ eindrücklich zeigt, musste sich ein Ethnologe möglichst ‚neutral‘ und unpolitisch geben: Fričs hatte das Verhalten deutscher Kolonisten in Brasilien sowie die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung öffentlich angeprangert, was seiner Karriere am Völkerkundemuseum in Berlin ein vorzeitiges Ende setzte. Er stellt allerdings einen Sonderfall dar, zählten doch das praktizierte Schweigen und eine apolitische Haltung der Ethnologen zum Selbstverständnis der Disziplin (S. 139f.). Neben dem Schweigen aus strategischen Gründen gehörte die Praktik des Retuschierens von Fotografien – sogenannten Typen-Bildern – zu gängigen Methoden der Ethnologen. Das Retuschieren von Hintergründen wird von der Autorin als Form der De-Kontextualisierung und Ausblendung sozialer Verhältnisse interpretiert, die zur Dessubjektivierung der abgebildeten Person führten (S. 148).

Im zweiten Kapitel geht es um Sprachvermittlung und Textproduktion unter Beteiligung lokaler Akteure. Befragungen, Körpervermessungen oder fotografische Aufnahmen werden hier als Praktiken der ethnologischen Feldforschung verstanden. Fernández Castro nimmt zunächst die Figur des Dritten in den Blick, die von Ethnologen wie Indigenen meist als fremd und störend wahrgenommen wurde, da sie „in-between“, d.h. im Spannungsfeld einer Begegnung zu verorten war. Im Kontext der ethnologischen Forschung im Amazonasgebiet traten insbesondere Kautschukhändler, andere Forscher, Indigene oder Missionare als Vermittler zwischen Ethnologen und der lokalen Bevölkerung auf.

Am Beispiel materieller Artefakte wie Sprachtabellen und linguistischen Völkerkarten zeigt Fernández Castro Praktiken des Sammelns von Wissen auf und verdeutlicht, wie Ethnologen „nicht nur ihre wissenschaftliche Autorität“ konstruierten, sondern „die Identität der indigenen Gemeinschaften als ethnologische Fakten“ zu manifestieren suchten (S. 199). Ausgehend von Verschriftlichungen mündlicher Überlieferungen, wird der Frage nachgegangen, wie Sinngebung und Wertzuschreibung geschaffen wurden. Einer mündlichen Überlieferung wurde seitens der Ethnologen dann Sinn gegeben, wenn diese als vormals immaterielles lokales Wissen in gängige europäische Erzählmuster transformiert werden konnte. In diesem Prozess entschieden Indigene selbst, welches Wissen sie preisgeben wollten. Objektivierte indigene Überlieferungen wurden so zu Äquivalenten europäischer Kategorien wie beispielsweise Mythen. Die Verortung indigener Erzählungen im europäischen Gattungssystem trug maßgeblich zu ihrer symbolischen Wertzuschreibung bei.

Das dritte Kapitel nimmt materielle Austauschprozesse in den Blick. Hier zeigt Fernández Castro, dass bei der Kulturübersetzung auch Dinge Transformationen durchlaufen können: Durch kulturelle Aneignung, Tauschhandel und Kommodifizierung tragen solche Ethnographica zum Verständnis von Kulturübersetzung als interaktive Praxis bei. Die Autorin zeigt, wie Bedeutungsverschiebungen durch die Übertragung von Artefakten „von einem Körper (bzw. einem semantischen System) zu einem anderen erfolgten“ (S. 273). Die von Ethnologen praktizierte Travestie verdeutlicht sie anhand einer Fotografie von Theodor Koch-Grünberg, die den Ethnologen mit Federkrone und Gesichtsbemalung zeigt. Koch-Grünberg evozierte durch diese Einverleibung von Dingen des ‚Anderen‘ „eine Art verkehrten“, d.h. unbekannten Exotismus (S. 275).

Mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie behandelt Fernández Castro Artefakte außerdem als Protagonisten des Tauschhandels. So waren Artefakte aus außereuropäischen Kulturen, wie bereits viele Studien zeigen konnten, konstitutive Elemente für die Entstehung der Ethnologie als Disziplin, die Ethnologen durch ihren Verkauf an Museen zu ökonomischem Kapital verhalfen. Dem gegenüber standen jedoch auch Gegenstände aus Europa, die während der Feldforschung als Bezahlung für die Partizipation indigener Akteure dienten. Die Kommodifizierung als Transformation der symbolischen Bedeutungen von Artefakten werden in diesem Kapitel ebenso behandelt wie die Strategie der Desubjektivierung, die von Indigenen genutzt wurde, um Artefakten ihre Handlungsmacht zu entziehen und sie so erst veräußerbar zu machen. Obwohl die Autorin indigene Handlungsmacht überzeugend aufzeigen kann, ohne asymmetrische Machtrelationen außer Acht zu lassen, leuchtet der postulierte Protagonismus der Dinge (S. 307–328) allerdings nur zum Teil ein.

Johanna Fernández Castro schafft es dennoch in ihrer Studie auf beeindruckende Weise, komplexe und sehr reflektierte Ausführungen zu Theorie und Methode empirisch in drei Kapiteln rückzubinden. Am Beispiel des Amazonasgebietes zeigt sie, dass Kulturübersetzung als wechselseitige Praxis zu verstehen ist und nicht ausschließlich eine hegemoniale Übersetzung in eine Richtung meint. Fernández Castro wählt einen transdisziplinären Ansatz, der nicht nur für Leser:innen der Kulturwissenschaft, Ethnologie oder Translationswissenschaft interessant ist, sondern auch für Vertreter:innen der Linguistik, der Soziologie oder der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte.

Kritisch anzumerken ist, dass die historischen Kontextualisierungen etwas knapp ausfallen (z.B. S. 91, S. 105, S. 115f., S. 125f.). So wird zwar auf frühere Expeditionen deutscher Forscher wie Carl Friedrich Philipp von Martius, Johann Baptist Spix oder Maximilian zu Wied-Neuwied Bezug genommen (S. 65, Fußnote 20), dennoch hätte die Vorgeschichte der frühen deutschen Ethnologie im Amazonasgebiet, deren Beginn Fernández Castro auf das Jahr 1884 datiert, etwas ausführlicher präsentiert werden können. So bleibt mitunter die Frage offen, ob frühere Expeditionen die hier in den Blick genommenen Ethnologen inspirierten.

Mit den verschiedenen Formen des Schweigens – sowohl auf Seiten der Ethnologen als auch der Indigenen – bzw. des Nicht-Preisgebens von Wissen schneidet Fernández Castro einen sehr interessanten Aspekt an, der in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte weiterer Studien bedarf. Insgesamt handelt es sich um eine sehr zu empfehlende Lektüre, deren Besonderheit in der gelungenen empirischen Rückbindung von „Kulturübersetzung“ als konzeptionellem Ansatz liegt.

Anmerkung:
1 Doris Bachmann-Medick, Kulturanthropologie und Übersetzung, in: Harald Kittel u.a. (Hrsg.), Übersetzung, Translation, Traduction, Bd. 1, Berlin 2004, S. 155–165, bes. S. 155f.

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